In Reisen

Meine Wanderschuhe und ich: Hunderte von Kilometern auf ölfesten Sohlen. Ein Nachruf.

Am Samstag, 7. August 2010, habe ich sehr geweint. Es war der Abschiedstag von meinen Wanderschuhen. Ich trug sie ein letztes Mal – nicht am Fuß, sondern im Rucksack. Zum Schuhmacher. Das ist ein älterer Monsieur, der sein Handwerk beherrscht und zu dem ich immer meine Pflegefälle bringe. Bereits letzten Sommer musste er seine Handwerkskunst beweisen und ebendiese Wanderschuhe neu besohlen. Damals wollte er sie schon aufgeben, aber ich hatte an seine Schuhmachermeisterehre appelliert. Letztendlich war die Maßnahme nur lebensverlängernd gewesen. Doch der Reihe nach.

„Begegnet“ waren wir uns vor vielen Jahren auf dem Kleinfeldsteg. Ich fand Euch auf Anhieb attraktiv: so herrlich altmodisch, Luis-Trenker-mäßig. Ich machte mir auch keine Gedanken über Eure Herkunft. Einer, der von der Brücke springt und vorher die Schuhe auszieht? Absurd!

Die Anprobe gleich auf der Brücke fiel positiv aus, also: mitkommen! Dabei wart Ihr gar keine Wander-, sondern Arbeitsschuhe. Auf Euren Sohlen stand „schockabsorbierend“ und „ölfest“, und Eure Kappen waren mit Stahl verstärkt. So richtig zum Extremtanzen und Herumstiefeln in unwegsamem Gelände! Ein bisschen aufgehübscht habe ich Euch natürlich schon; ein Edelweiß und ein Kuhglöckchen zum Einfädeln sowie Hirschhornperlen ans Ende der Schuhbändel mussten sein. Ein bisschen Nachfärben, Einölen und Polieren ebenfalls. Und dann ging’s auf jede Piste. Ihr habt mich nie enttäuscht; sogar zum Sommerkleidchen habt Ihr Euch gut gemacht, denn ich konnte Euch, da auch innen reines Leder, barfuß tragen. Zum zünftigen Winter-Wander-Look kamt Ihr natürlich richtig gut. Ihr habt mich mit Leichtigkeit trittsicher gemacht. Zum Wandern in unserer Region ging ich nie ohne Euch; sicher hättet Ihr den Kalmitgipfel in der Pfalz bald ohne mich gefunden …

Und dann ging’s auf Reisen. Ich hatte Euch oft dabei, stets am Fuß, und auf die leichte Schulter in die Reisetasche kamen dann Eure – zugegeben etwas eleganteren – Kollegen. Zusammen waren wir in der Türkei, in Mexiko auf über 1000 Metern; wir haben uns einen Teil der ligurischen Küstenwanderwege erschlossen, und unser letzter größerer Ausflug ging nach Albanien. Dort passierte es. In einem Bekleidungsgeschäft musste ich feststellen, dass der rechte Absatz lose war. Ein Drama! Aber nicht in Albanien. Denn dort kennt immer jemand jemanden, der etwas reparieren kann. So schleppte mich ein Freund der Verkäuferin in einem Klamottenladen zu einem weiteren Freund, einem Schuhmacher, in dessen winziges Lädchen. Der griff beherzt zu Nadel, Leim und Faden und rückte dem Problem zu Leibe. Ich hätte ihn gern fürstlich entlohnt, doch er lächelte nur und gab mir seine Adresse. Wahrscheinlich ziert nun unser Foto seinen Laden …

Sicher wären wir noch viele Meilen miteinander marschiert, denn die albanische Reparatur war nicht nur Flickwerk, sondern hielt. Aber diesen Sommer fingt Ihr nun links an zu lahmen. Das gleiche Problem, auch der Absatz lose. Mir schwante schon, dass ich alle meine Überredungskünste beim einheimischen Schuster würde brauchen müssen, und machte kälberfeuchte Kulleraugen. Doch der Schuhmacher, immerhin „mein“ Schuhmacher, blätterte nur wortlos die ganze Sohle auf.

Das war es dann, das musste auch ich letztlich einsehen. Als ich den Schuhmacher die Verzierungen abschneiden ließ, kam es mir vor, als würden einem entehrten General die Epeauletten abgerissen. Aber als ich Eure Nachfolger mit diesen Insignien auszeichnete, war mir, als seid Ihr immer noch ein Stückchen bei mir. Und unvergessen seid Ihr sowieso!

(Bild: Urban Huber)

 

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