In Kurioses, Sprache

Der Tag, an dem die Wörter weg waren

Es war ein ganz gewöhnlicher Tag, an dem drei Mannheimer Bürger aus ihrer Nachtruhe erwachten und sich für den neuen Tag bereit machten: Luise und Friedrich, das ältere Ehepaar, wohnhaft am Ring in der Nähe des Parks, und der angehende Betriebswirtschaftler Manni in seinem Studentenwohnheim.

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Als Friedrich die Tageszeitung vom Fußabstreifer, wo ihn aufmerksame Nachbarn stets für ihn ablegten, aufhob, hielt er erstaunt inne: Wohl war auf der Titelseite das Aufmacherfoto zu sehen, doch es fehlte jeglicher Text. Keine Bildunterschrift, keine Überschrift, nur leere Spalten. Dort, wo sich der Titelkopf mit dem vertrauten Schriftzug befand, war nur die unterlegte blaue Farbe zu sehen. Kopfschüttelnd blätterte er die Zeitung auf, der festen Überzeugung, es handle sich nur um eine Aktion unzufriedener Drucker, die einfach mal die erste Seite leer ließen. Doch auch im Inneren fand sich nur unbedrucktes Papier. Selbst die Werbebeilage schaute ihn wortlos aus ihrem bunten Rahmen an.

Mit der Zeitung unterm Arm zog er sich in die Wohnung zurück. Das musste er Luise zeigen! Er fand seine Frau reg- und wortlos vor dem Kühlschrank kauernd. Das war in zweierlei Hinsicht sonderbar: Erstens jammerte sie ständig über ihre Knie, wenn sie sich bücken musste, und wenn sie nicht jammerte, so pflegte sie nahezu ununterbrochen zu schwätzen – mal plauderte sie, was sie von den Nachbarn gehört hatte, oder erzählte ihm hanebüchene Geschichten aus ihren Frauenzeitschriften nach.

Jetzt aber schwieg sie. Das war unheimlich. Friedrich zog Luise vom Boden hoch und nahm ihr die Milchtüte aus der Hand, deren Inhalt sie gerade in das bereitstehende Milchkännchen hatte gießen wollen. Beim Blick auf die Packung stutzte auch er. Sie hatte sich verändert. Zwar war sie mit der stilisierten grünen Weide und der schwarzweißen Kuh unschwer als Milchtüte zu erkennen. Auch das Haltbarkeitsdatum fehlte nicht. Doch ansonsten befand sich auf der Packung – nichts. „Das ist doch seltsam“, murmelte Friedrich. „Ganz wie bei der Zeitung. Ob es da einen Zusammenhang gibt?“

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Schrilles Weckerläuten riss Manni aus seinen leicht verkaterten Träumen. Genervt schlug der Student auf das Blechding, das Viertel vor zehn anzeigte, und rieb sich die Augen. Gähnte ausgiebig, bevor er die Decke zurückschlug und ins Bad schlurfte. Blind wie ein Katzenjunges öffnete er die Zahnpastatube, drückte einen Zentimeter ihres Inhalts auf die Zahnbürste und setzte sich damit aufs Klo. Noch liefen seine Gedanken auf halber Energie und nicht besonders rund. Es galt, sich zu dieser nachtschlafenden Zeit auf die nächsten Schritte zu konzentrieren: Die Tasche für die Vorlesung im sicher wieder total überfüllten Hörsaal zu packen und die Straßenbahn zu kriegen. Und Carolin! Die war scharf; sie hoffte er in der Vorlesung zu sehen und hinterher in die Mensa einzuladen. Hoffentlich hatte er noch genug Barschaft. Doch zunächst musste er den anhaltenden Knoblauch- und Alkoholgeschmack aus seiner Mundhöhle entfernen. Der stammte von der gestrigen spontan anberaumten Wohnheimfete, bei der Unmengen von Chili con carne (et alio!) und Rotwein (ex canistra!) in die Mägen der Bildungselite gefunden hatten. Völlig ungestylt und mit diesem Odeur in der Atemluft würde er vor Carolin nicht brillieren können.

Endlich ausgehfertig, klemmte er sich rasch das Lehrbuch „Strategisches Marketing“ unter den Arm und eilte, seine Umwelt immer noch wie durch den Polfilter einer Kamera wahrnehmend, zur Straßenbahn. Als er das Buch auf seinem Schoß deponierte, das er immer kapitelweise während der 20-minütigen Bahnfahrt las, zweifelte er deshalb zunächst an seinem Verstand. Das gelbe Cover zierte lediglich das Verlagslogo. Ansonsten war es leer. Das ganze Buch war leer. Von Seite 1 bis 200. Als sein Blick die Reklametafeln an der Strecke traf, sah er rauchende Männer im Pyjama zu Füßen des Montmartre, sich in Unterwäsche räkelnde samthäutige Schönheiten und kleine, kraushaarige Kinder aus Afrika, die dem Betrachter die Hände entgegenstreckten. Aber es waren nur Bilder ohne Buchstaben. Kein Zweifel war möglich: Der Welt waren die Worte ausgegangen!

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Etwa zeitgleich schaltete eine Texterin in ihrer Dichter- und Denkerstube den Computer ein und machte sich an ihr gegenwärtiges Projekt – einige kleine Einstiegstexte für eine Internetseite, an deren Schlagkraft und Kürze sie seit Tagen feilte. Dabei hallten ihr die Worte des Auftraggebers im Ohr: „Das bisschen Text soll so viel kosten?! Das könnten wir im Grunde selbst machen; schreiben kann doch jeder!“ Des Öfteren hatte sie sich genüsslich ausgemalt, wie es wäre, wenn sämtliches Geschriebene auf einmal von der Bildfläche verschwände. Und plötzlich war es so: Auf der Startseite, auf der sie gewöhnlich die ersten Nachrichten des Tages abrief, begrüßte sie ein leeres, weißes Feld … Sollte sich ihr Wunsch etwa erfüllt haben?

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Immerhin ist ja bald Weihnachten, und da darf man sich doch etwas wünschen. Und deshalb wünsche ich mir viele tolle Aufträge, die auch anständig bezahlt werden!

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